Forschungsprojekt zur Emotionsgeschichte des Terrorismus im Russischen Reich vor 1917
Am Anfang unseres Jahrhunderts steht der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, und spätestens seitdem ist der Terrorismus in unserer Gegenwart eine allgegenwärtige Bedrohung. Terroristische Anschläge erschüttern Gesellschaften in allen Ländern der Welt, nicht nur im Nahen und Fernen Osten, in Afrika, Amerika oder an den Peripherien des ehemaligen sowjetischen Imperiums. Auch in den europäischen Metropolen, in London, Paris und Berlin erregen terroristische Attentate die Öffentlichkeit. Selbst in der Provinz, etwa in Halle an der Saale oder im hessischen Hanau, töten terroristische Einzeltäter*innen unschuldige Menschen. Ihre Motive sind ebenso vielfältig, wie manchmal kaum zu ermitteln. Es sind vor allem die Gewalt und die Bedrohung, die von der Allgegenwart und Wahllosigkeit des Terrorismus ausgehen, die uns vermutlich in ähnlicher Weise erschüttert, wie sie die Menschen im Russischen Reich im 19. Jahrhundert bewegt hat. Die Geschichte des russländischen Terrorismus zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, ist also durchaus vielversprechend, weil sie bei den Leser*innen auf einen Bezugsrahmen stößt, in den sich die vergangenen Ereignisse und ihre Analyse einfügen können. Zugleich aber ist gerade dieser vermeintliche Aktualitätsbezug problematisch, weil die Leser*innen von dieser Geschichte in besonderer Weise erwarten, dass sie den moralischen Anforderungen ihrer gegenwärtigen Position zum Terrorismus genügt. Das Dilemma beginnt bereits bei dem zentralen Begriff „Terrorismus“, über den schon Walter Laqueur gesagt hat, dass er nicht definierbar sei. Dennoch hat der Soziologe Peter Waldmann eine Definition vorgelegt, die einige wichtige Aspekte des histori- schen Phänomens Terrorismus berücksichtigt:
Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge aus dem Untergrund gegen eine politische Ordnung zu verstehen. Sie sollen vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützung erzeugen.
Peter Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, Hamburg 2011, S.9.
Terrorismus ist also eine Taktik des gewaltsamen Kampfes. Sie wird unabhängig vom ideologischen oder religiösen Hintergrund der Taten eingesetzt, um einen kommunikativen Zweck zu erfüllen. Doch der analytische Gehalt des Begriffes unterscheidet sich von seinem häufig normativen Gebrauch in den Quellen. Dort wird der Begriff „Terror, Terrorismus“ vor allem zur „abgrenzenden Feindbezeichnung“ genutzt. In diesem Sinne hat das Bonmot, dass dieselben Personen, die den einen als Wider- ständler*innen oder Freiheitskämpfer*innen gelten, aus einer anderen Perspektive Terrorist*innen sein können, durchaus seine Bedeutung. Sogar Osama bin Laden, der meistgesuchte Terrorist des frühen 21. Jahrhunderts, war für viele Menschen ein Kämpfer für die Sache der unterdrückten Muslim*innen. Für die Geschichte des russländischen Terrorismus gilt zudem, dass der Begriff „Terrorismus“ neben dieser für die Fremdzuschreibung typischen abwertenden Abgrenzung ein Quellenbegriff im Sinne der positiven Selbstidentifizierung ist.
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Damit verbundene Aufsätze (Auswahl)
- Der Gerichtsprozess als Bühne, die Medien und die emotionale Gemeinschaft um die Terroristin Vera Zasulič, in: Die (Un)Sichtbarkeit der Gewalt. hg. v. Jörg Requate, Dirk Schumann und Petra Terh (2023)
- Of Heroes and Villains – The Making of Terrorist Victims as Historical Perpetrators in Pre-Revolutionary Russia (2018)
- Hirš Lekerts Rache: Gewalteskalation an der Peripherie des Zarenreichs um 1900 (2016)
- Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte (2010)
- Introduction: Modern times? Terrorism in Late Tsarist Russia (2010)